Wir alle sind lebendig. Aber woher stammt dieses Leben? Sind es denn die Eltern, sind es die Vorväter und Vormütter, die genau dieses Kind gewollt und ihren Vorstellungen entsprechend "gemacht" haben? Natürlich geben die Eltern dem Kind die leiblichen und seelischen Vorgaben mit, aber keineswegs zielbestimmt und bewusst. Dieser einfache Gedanke lässt sich schon daraus entnehmen, dass auch die Eltern ihr Kind erst als Unbekanntes kennen lernen müssen. Und sogar noch mehr: auch das Kind muss sich später selbst in einem Reifungsvorgang annehmen, es muss seine Grenze und sein Nichtvermögen ebenso kennen lernen wie seine Mitte und sein Können.
Kultur des Lebens heißt: sein Leben als Gabe leben. Genauer: als Gabe von anderswoher leben. Kultur des Lebens heißt auch: anderen diese Gabe gönnen. Und zwar vom Lebensanfang bis zum Lebensende. Unter dem Schein des Selbständigen Abtretens von der Bühne werden alte Menschen in den "freiwilligen" Tod gedrängt. Unter dem Schein, selbständig wählen zu dürfen, werden Frauen zur Tötung ihres eigenen ungeborenen Kindes gedrängt. Unter dem Schein einer Entlastung der Frau werden Väter um ihre Kinder gebracht, ohne je gefragt zu werden.
Kultur des Lebens heißt: Leben weitergeben dürfen, Kinder willkommen heißen dürfen auf dieser krumm-buckligen Erde trotz aller Widerstände, es heißt Mütter und Väter stärken, es heißt nicht zuletzt gerne Großeltern werden.
Kultur des Lebens heißt: Sterbendürfen, wenn es Zeit ist, und den eigenen Tod als Durchgang zum neuen, endgültigen Leben begreifen. Es heißt, die damit verbundenen Schmerzen des Loslassens mit der Hilfe anderer durchzustehen und den eigenen körperlichen Verfall nicht schamhaft verstecken zu müssen. Statt Entsorgung ist uns gemeinsam die Sorge für die anderen aufgetragen.
Solche Sätze lassen sich nur sagen, weil wir unser Leben einem Urlebendigen verdanken. Die europäische Kultur hat lange aus dieser Erfahrung heraus gedacht. Es ist Zeit, den Horizont für die Kultur des Lebens wieder zu öffnen.
Lesetipps:
- H.-B. Gerl-Falkovitz, Eros - Glück - Tod, und andere Versuche im christlichen Denken, Gräfelfing (Resch Vlg.) 2001.
- Eberhard Schockenhoff, Ethik des Lebens, Freiburg (Herder) 2001.
- Robert Spaemann, Personen. Versuche über den Unterschied zwischen 'etwas' und 'jemand', Stuttgart (KLett-Cotta) 2. Aufl. 1998.
- Enzykliken " Veritatis Splendor", 1993, und „Evangelium Vitae“, 1995.