Liebe Freunde!
Als Zeitgeist bezeichnet man das kulturelle und intellektuelle Klima einer bestimmten Zeit. Er prägt nicht nur stark, wie sich Menschen kleiden oder verhalten. Der Zeitgeist beeinflusst, wie man in schwierigen Situationen reagiert, wie viele Kinder man bekommt und welchen Beruf man wählt. Ein positiver Zeitgeist kann vielen Menschen das Leben erleichtern und sie in moralisch relevanten Entscheidungen unterstützen.
Im Laufe der Jahrhunderte ging der Zeitgeist manchmal mit christlichen Überzeugungen mehr oder weniger konform. Oft hat er aber das Christentum einmal für die eine, einmal für die andere Sache gehasst und bekämpft. Dennoch wurde der christliche Glaube mit sicherer Hand von einer Generation an die nächste weitergeben: Der Heilige Geist hat sich in der Geschichte als beständiger erwiesen!
Heute bläst uns Christen in Europa der Zeitgeist unfreundlich ins Gesicht. Viele Dinge, die uns wichtig sind, erscheinen ihm völlig unverständlich. Nun heißt es also für uns, sich nicht verunsichern zu lassen, den christlichen Glauben an die nächste Generation weiterzugeben und gleichzeitig zu versuchen, am kulturellen und intellektuellen Klima unsere Zeit mitzubasteln. Vielleicht ist es noch zu retten?
Im Folgenden finden Sie eine kleine Zeitgeistanalyse von Pater Karl Wallner, OCist, Dekan der Päpstlichen Hochschule Heiligenkreuz bei Wien. Weltweit bekannt wurde er diesen Sommer durch den gregorianischen Gesang seiner Mitbrüder, derzeit in den Charts ganz oben.
Mit herzlichen Grüßen,
Ihre Europa für Christus – Team
PS: Danke für Ihr tägliches Gebet für ein christliches Europa
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Kleine Zeitgeistanalyse
Karl Josef Wallner
Zeitgeist nennt man den Lebensstil, die Mode, die geistige Atmosphäre, die in einer Ge-sellschaft gerade herrscht. Definitionsgemäß ist der Zeitgeist absolut wandlungsfähig, er ist ein vergänglicher Hauch, der heute so und morgen so weht. Schon von daher ist klar, dass eine Bewegung wie das Christentum, die auf Fundamente gegründet ist, die nicht wandelbar sind, in Spannung steht zum Zeitgeist. Nicht nur heute, sondern zu allen Zeiten!
Christus hat den Anspruch erhoben, dass Himmel und Erde vergehen, seine Worte aber nicht. Er hat die Verheißung gegeben, dass sein Heiliger Geist in die ganze Wahrheit ein-führt, und dass dieser Geist weht wo er will. Zeitgeist und Heiliger Geist sind geborene Feinde; besser gesagt: der Zeitgeist braucht immer die Erlösung durch den Heiligen Geist, damit er weiß, dass er nur ein „Lüftchen“ ist, das im nächsten Augenblick schon wieder spurlos verweht ist. Wo gibt es derzeit Konfrontationslinien zwischen Zeitgeist und Heiligem Geist?
Wir müssen uns als Christen erstens bewusst werden, dass der liberale Zeitgeist der 68er schlechthin „out“ ist. Das Christentum ist ja immer „konservativ“, da es durch den Heiligen Geist Göttliches bewahren und weitergeben muss, - das ist sein Wesen. Aus dieser Tendenz heraus konserviert die Kirche aber manchmal auch Zeitgeistiges. Heute sind gewisse Kreise in der Kirche die letzte Bastion dessen, was man den „Geist der 68er“ nennen kann. Ich gestehe: Als einem Nachgeborenen ist mir persönlich die Mentalität der 68er psychologisch nicht zugänglich, ihr Revolutionsgehabe bleibt unverständlich. Mag sein, dass man damals gegen das Beengende, Strukturelle, Althergebrachte, Heuchlerische in Gesellschaft und Kirche revoltieren musste, aber das, was uns heute fehlt, ist sicher nicht Liberalität und Selbstbestimmung, sondern Bewährung und Ordnung. Im Bereich des christlichen Glaubens äußerte sich der Zeitgeist der 68er darin, dass man unbedingt „modern“ sein wollte. Ein erstaunlicher Minderwertigkeitskomplex hatte plötzlich die Theologie erfasst, wie ihn Rudolf Bultmann schon 1941 treffend formuliert hat: „Man kann nicht elektrisches Licht und Radioapparat benutzen, in Krankheitsfällen moderne medizinische und klinische Mittel in Anspruch nehmen und gleichzeitig an die Geister- und Wunderwelt des Neuen Testaments glauben.“
Kann man nicht? Die Theologen der 68er Generation sind damals erstaunlicherweise nicht zu Atheisten geworden, was man eigentlich als Konsequenz ihres Rationalismus hätte erwarten müssen... Aber sie haben begonnen, mit einer fast paranoiden Manie die Kirche zu entmystifizieren und entspiritualisieren. Und es ist alles anders gekommen als man erwartete: Die Moderne ist untergegangen und mit einem süffisanten Lächeln hat die Göttin der Postmoderne ihren Thron auf dem Horizont des Säkularismus bestiegen: Die Postmodernen glauben heute problemlos an Elfen, Gnome, Lebensengel, an die Kraft der Bäume und die Macht der Yogis und alles Mögliche und Unmögliche Irrationale. Von einigen Theologen, die intelligent genug waren, die Wende zu begreifen, schallt einem das Schlagwort von der „Respiritualisierung“ entgegen. Aber es gibt eine offensichtlich traumastisierte Generation der 68er, gerade in den Kirchen, die die Zeichen der Zeit nicht sehen kann. Die sind fest davon überzeugt, dass das Christentum zugrunde geht, wenn es nicht demselben Begriff von „modern“ huldigt wie vor 40 Jahren. Die wirklich „moderne“ Jugend heute aber braucht keine Befreiung zu einem liberalistischen Modernismus, indem jeder alles darf – das dürfen sie sowieso! – sondern sie möchten das entdecken, was wirklich durch das Leben trägt und Ordnung, Sinn und Orientierung gibt. Wenn es wo Fruchtbarkeit in der Kirche gibt, wenn es Jugendliche gibt, die substantiell aus dem Glauben leben, dann nicht dort, wo man ein liberales Süppchen der Beliebigkeit kocht (das Menü, mit dem der Säkularismus lockt, wird ja doch immer viel genussvoller duften!), sondern dort, wo man die Kost des unverkürzten Evangeliums kocht.
Ein weiteres Phänomen des heutigen Zeitgeistes ist der Egozentrismus: Der Heilige Geist, so glauben wir Christen, führt in die Anbetung Gottes und die Wertschätzung der anderen Menschen. Auch der Zeitgeist lehrt uns anbeten, aber das Objekt der Anbetung ist derzeit nichts anderes als das eigene Ich. Nach der Analyse des erfolgreichen Trendforscher Mat-thias Horx sind wir unversehens in die Zeit des Supermegagiga-Egoismus geschlittert. Horx formuliert diesen Trend so: „Wo Wir war, soll Ich werden“ und: „Aus wir wird Ich“ . Das „Wir“, also die Institution, die Familie, der Staat, die Religion, die gesellschaftliche Norm usw. – all das soll dem eigenen Ego unterworfen werden. Dieser Paradigmenwechsel trifft die Kirchen ebenso wie etwa Parteien und Gewerkschaften. Im zeitgeistigen Werte-Set steht an oberster Stelle, dass jeder „sein eigener Herr“ bzw. „seine eigene Frau“ ist. Daraus resultiert logischerweise ein extremer „Eklektizismus“: da ich nach dem Prinzip „Ich-meiner-mir-mich“ lebe, wähle ich mir aus dem Gruppen-Wertesystem den Stil aus, der meinem „Ich-meiner-mir-mich“ zusagt. Daraus folgt wieder, dass jedes Ich zwar eine Menge von „partiellen Identifikationen“ hat: Man akzeptiert das, was einem passt von einer Religion, einer Partei, einem Wertsystem, - ohne sich aber voll und ganz zu identifizieren.
Was nun die gesellschaftlichen Werte betrifft, so wird der Heilige Geist hier sicher mit dem Zeitgeist gnädig sein: wo ist schon eine Partei, eine Institution usw., die voll und ganz christlich ist?! Hier wird jeder Christ nach dem Prinzip vorgehen müssen: Wo ich „am meisten“ von meinem Christentum wieder finde, dort bin ich zu Hause. Freilich: Im Bereich des Glaubens aber fordert der Heilige Geist eine totale Übereinstimmung, er will ja nicht in eine „halbe Wahrheit“, sondern „in die ganze Wahrheit führen“ (Joh. 16,3). Das heißt also: nicht halber Christ, sondern ganzer Christ. Und wo diese völlige Identifikation mit dem Geist Gottes gesucht wird, da lösen sich die Nebel des Zeitgeistes, der leider so oft ein Ungeist ist, ohnehin bald ins Nichts auf. Das Beständige bleibt, denn „wer nur immer mit der Zeit geht, muss mit der Zeit gehen.“
P. Dr. Karl Wallner OCist
(www.hochschule-heiligenkreuz.at)