Die Technik in der Medizin schreitet rapide voran. Unser Wissen vom Kind vor der Geburt nimmt ständig zu. Eine Schwangerschaft wird heute ganz anders als noch vor 10 Jahren wahrgenommen. Mit der Gelassenheit ist es vorbei! Warten im Vertrauen ist kaum noch möglich: vorgeburtliche Tests werden systematisch vorgeschlagen und manchmal sogar aufgenötigt. Und dabei geht es nicht nur darum das Geschlecht des Kindes zu wissen, um die Kleiderfarben und den Vornamen auszusuchen, sondern darum, sicher zu sein, dass das Kind - genetisch und physisch – den neuen Gesetzen der Normalität entspricht.
Aber noch hat die Forschung ihre Möglichkeiten nicht vollends ausgeschöpft! Schon jetzt werden immer häufiger Gentests an Embryonen dahingehend durchgeführt, um um das Risiko möglicher Gendefekte oder Krankheiten des Kindes zu wissen. In naher Zukunft muss hierfür nicht einmal mehr der Embryo selbst, sondern nur mehr das Blut der Mutter untersucht werden. Bereits in sehr frühem Stadium wird man erkennen, ob das Kind gesund und „normal“ ist.
Die Konsequenzen dieser Diagnosemöglichkeiten kennen wir nur zu gut. Die Toleranzgrenze gegenüber Menschen mit Behinderungen oder Krankheiten sinkt weiterhin – wir wissen einfach nicht, wie wir damit umgehen sollen. Unsere Gesellschaft ist zutiefst gespalten: so wird auf der einen Seite Respekt für Menschen mit Behinderung bezeugt, zur selben Zeit werden genau diese „abnormalen Menschen“ aber ausgestoßen und abgesondert. Diese neue Form der Eugenik ist ultra-liberal und genauso gewaltsam und totalitär wie vergangene Ideologien.
Tatsächlich scheint mir die Verzweiflung das beunruhigendste Symptom zu sein: die Verzweiflung, nicht helfen zu können. Wir glauben anscheinend nicht nur, dass Schwäche dem Leben jeglichen Sinn nimmt. Viel schlimmer ist die Tatsache, dass wir uns selbst davon zu überzeugen versuchen, dass es Fälle gibt, in denen nichts und niemand Linderung, Zuversicht oder Trost spenden kann.
Warum ist es so schwer, einen Leidenden zu begleiten? Die Faszination der Wissenschaft und Technologie sowie der Wegfall religiöser Ecksteine führen zum Verlust der Richtwerte. Als Folge beginnen wir, der Gesundheit zu huldigen. Wir erwarten von der allmächtigen Medizin alles Leid abzuschaffen. Abhängigkeit, Krankheit und der Verlust der Autonomie erscheinen uns so schrecklich, dass der Tod wünschenswerter wäre. Es sollte uns nicht erstaunen, dass sich in weiterer Folge so viele Menschen in selbstgerechte Richter einer „relativen Würde“ verwandeln, die sie von Krankheit oder Behinderung bedroht sehen.
Das menschliche Leben ist vielfach bedroht, durch Abtreibung, durch die Erniedrigung des Embryos zu einem verfügbaren Ding, durch Eugenik und Euthanasie. Die maßlose Zahl dieser „Toten in der Familie“ eröffnet uns das Ausmaß eines humanitären Desasters ohnegleichen. Johannes Paul II sprach von einem Krieg der „Starken gegen die Schwachen“ (1). Natürlich ist es angesichts des Ausmaßes dieses Dramas nicht möglich, „daneben zu stehen und nichts zu tun“. Die Verteidigung der Schwächsten betrifft uns alle. Leider sind die geeigneten Mittel nicht so offensichtlich. Die großen Einsichten der Kirche bieten hier eine Hilfe, die richtigen Worte zu finden.
Um unseren Umgang in der Annahme des Lebens und des Leidens zu verbessern müssen wir an der Umkehr unserer Herzen arbeiten. Es liegt an uns diese Veränderung herbeizuführen: Nehmen wir das Evangelium des Lebens in seiner Tiefe in uns auf, in unserem persönlichen Leben und durch unser Arbeiten in Wahrheit und Nächstenliebe. Beten wir jeden Tag für dieses Ziel – und wir werden die Welt verändern.
Xavier Mirabel ist Onkologe und Vater eines Mädchens mit Trisomie 21. Er ist Vorsitzender der „Allianz für das Recht auf Leben“: www.adv.org.
1 Encyclica Evangelium Vitae, 1995, Johannes Paul II, 12