Liebe Freunde!

In Europa werden wir Christen oft vorwurfsvoll mit der Vergangenheit konfrontiert. Die Geschichte wird als Argument gegen die Gültigkeit unserer Überzeugungen und die Richtigkeit unseres Glaubens instrumentalisiert. Diese Mode hat manchmal groteske Züge, wenn zum Beispiel Fiktives mit angeblich historischen Quellen in Romanform verpackt und dann als große Enthüllung verkauft wird.

Prinzipiell ist es schwierig, ferner zurückliegende Prozesse und Ereignisse der Geschichte aus dem Blickwinkel der Gegenwart zu verstehen und richtig zu beurteilen. Besonders problematisch ist allerdings die – meist selbstgerechte – Verurteilung der handelnden Personen einer völlig anderen Zeit und Kultur. Als Christen sollten wir die Fehler und Ungerechtigkeiten, manchmal sogar Verbrechen, kennen, die – leider auch im Namen der Kirche und des Christentums – begangen wurden. Andererseits sollten wir nicht vergessen, dass so genannte „Sünden des Christentums“ eigentlich Sünden Einzelner gegen den Geist Christi sind, damals wie heute. Und wir sollten auch von Aspekten und historischen Entwicklungen wissen, die auf das gelebte Evangelium zurückgehen und die wir heute als sehr positiv beurteilen.

Für bestimmte Epochen haben die Vorwürfe durchaus systematischen Charakter, weshalb es sich lohnt, über einige dieser Fälle nachzudenken. Carlos Casanova ist Professor für Philosophie an der katholischen Universität von Santiago de Chile. Er versucht, in der gebotenen Kürze zu erzählen, inwiefern unsere Auffassungen über die Kolonisierung Lateinamerikas von schwarzen Legenden gespeist sind.

Für die Christen in Europa ist diese Informationen nützlich, um auch die eigene Geschichte besser zu verstehen.

 

Ihr Europa für Christus - Team

PS: Bitte nicht vergessen: Das tägliche Vater Unser für ein von christlichen Werten getragenes Europa.

 

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Schwarze Legenden

von Carlos Casanova

 

Die verbreitetsten Geschichtsbücher unserer Zeit wurden sicherlich von Gegnern des Christentums geschrieben. Diese wissen nämlich, dass die Macht über die Zukunft mit der „Kontrolle der Vergangenheit“ (Orwell) einhergeht. Deshalb wurden mit der Zeit zahlreiche Legenden in die Welt gesetzt, die das zivilisatorische Werk der Kirche und der Christen verdunkeln. Die meisten dieser Klischees und Vorurteile beziehen sich auf das „finstere Mittelalter“ der lateinischen Christenheit und die Conquista, also die spanische Herrschaft in Lateinamerika. An dieser Stelle können wir nicht die vielen Aspekte solcher Mythen aufklären, sondern nur einen exemplarischen Fall aufgreifen. Ziel meiner Bemühung ist nicht die lückenlose Dokumentation, sondern ein Aufruf zur Vorsicht: Gerade Christen sollten der historischen Literatur nur dann vertrauen , wenn diese auf soliden Primärquellen basiert, denn leider sind gerade verleumderische Autoren dafür bekannt, sich untereinander zu zitieren, um den Anschein der Seriosität zu wecken.

 

Der Aspekt, auf den ich mich hier konzentriere ist der Vorwurf der Versklavung der Indios in Lateinamerika. Wie bei allen vergleichbaren Ereignissen der Weltgeschichte verlief der erste Zusammenstoß der Spanier mit den Ureinwohnern in vielen Fällen gewaltsam. Trotzdem gab es einen bedeutenden Unterschied zu anderen Eroberungen, denn schon sehr bald begannen die Konquistadoren nach der Legitimität ihrer Vorgangsweise zu fragen. So entstand eine lebhafte Debatte, die schließlich zu einem umfangreichen Netz an Einrichtungen führen sollte, die relativ menschlich und umsichtig waren. Ein guter Überblick über diese Themen findet sich in David Brandings Werk „The First America“ (Cambridge 1990).

 

In Nordamerika wo die Indianer keine Landwirtschaft betrieben, wurden sie von den Eroberern, die Anhänger der Theorien John Lockes waren, praktisch ausgerottet. Locke hatte tatsächlich nichtkultivierte Anbauflächen als res nullius bezeichnet und sie denen zugesprochen, die sie bebauen wollten. Laut Tocqueville gab dieses Prinzip den Anstoß für das gewaltsame Ende der Ureinwohner Amerikas.

 

Im „spanischen“ Teil Amerikas, der einen großen Teil der heutigen USA und ganz Lateinamerika außer Brasilien umfasste, begann hingegen ein Prozess gesellschaftlicher Assimilation mit raschen ökonomischen Fortschritten und einem enormen kulturellen Wandel.

 

Die Assimilierung erfolgte vor allem über einen sozialen „Hebel“ und drei Institutionen. Der „Hebel“ der Entwicklung war die Vermischung der Einwanderer mit den indigenen Völkern, ein Phänomen wie es im Falle eines erobernden Volkes sonst in der Geschichte unbekannt ist. Natürlich gab es viele Spannungen und auch Missbräuche seitens der Einwanderer, aber von Beginn an waren Indios und Mestizen in der Schicht der Gebildeten und Reichen vertreten. Sehr bald gab es auch unter den Priestern und Mönchen Mestizen, wie zum Beispiel den berühmten heiligen Martin Porres. Der Gründer von Caracas, Francisco Fajarde, Mitte des 16. Jahrhundert, war ebenso ein Mestize wie der Architekt der dortigen Kathedrale und der große Anwalt und Essayist Juan German Roscío.

 

Die Encomiendas waren die erste der genannten Institutionen. Durch sie erfolgte die Aufteilung der indigenen Bevölkerung zu landwirtschaftlicher und handwerklicher Arbeit. Es handelte sich dabei nicht um Sklaverei, sondern um eine Dienst-Beziehung zum Grundherrn, wie sie ähnlich in den meisten europäischen Ländern damals üblich war. Vor allem zu Beginn gab es innerhalb dieses Systems auch Missbräuche, aber die spanische Krone und die zuständige Behörde (Consejo de Indias) benannten klare Normen und Verantwortliche, um diesen entgegen zu treten.

 

In den Missionen, die während der gesamten spanischen Herrschaft bestanden, stand es den Indios frei sich taufen zu lassen oder nicht. In jedem Fall erhielten sie grundlegende Kenntnisse in verschiedenen Bereichen des zivilen Lebens, des Handwerks etc. Viele alte Traditionen der hispano-amerikanischen Völker, ihre Musikinstrumenten und Trachten, landwirtschaftliche Techniken und sogar die Schrift der indigenen Sprachen verdanken sie den Missionen der Franziskaner, Jesuiten und Dominikaner.

 

Die dritte Einrichtung waren so genante Pueblos de doctrina (Siedlungen der Unterweisung). Sie ersetzten die Encomiendas die im 18. Jahrhundert fast überall abgeschafft wurden. Ein Priester sorgte dort für die Unterweisung in Glaubenslehre und Moral, Arbeitstechniken und Familienleben. Die Indios hatten zwar Privateigentum, bewirtschafteten aber gemeinsam das Gemeindeland. Sie wählten eigene lokale Vorgesetzte und ihren Kaziken. Die Klasse der unabhängigen Kleinbauer, die in all unseren Ländern zu Beginn des 20.Jhdt vorherrschte, hat ihren Ursprung in diesen so genannten Comuneros. Gegenüber jenen die die Schutzbestimmungen der Pueblos de doctrina als tote Gesetze bezeichnen, verweise ich auf den beeindruckenden Visitationsbericht des Bischofs von Caracas, Martì, geschrieben im 18. Jhdt. Dieses Gemeindeland blieb in vielen Ländern, wie zum Beispiel Venezuela oder Peru, bis zur Mitte des 19. Jhdt bestehen. Nachher beseitigten die antikatholischen Liberalen diese landwirtschaftliche Form unter dem Vorwand, sie widerspreche dem Recht auf Privateigentum. Doch die indigene Bevölkerung war nicht auf diese „Autonomie des Willens“ vorbereitet. Betrug, Bereicherung und Vertreibung wurden Tür und Tor geöffnet.

 

Zusammenfassend bleibt eine bemerkenswerte Beobachtung. Niemals gab es in der Geschichte einer imperialen Macht eine derart intensive Diskussion über die Legitimität einer Eroberung wie im christlichen Spanien des 16. Jahrhundert. Kaum je haben zudem die Regierenden vergleichbar viele Vorkehrungen getroffen, um die schwachen, unterworfenen Völker vor Übergriffen zu schützen. Natürlich ist nicht alles daran wirksam gewesen.

 

Trotzdem gelang die große Mestizaje (Völkervermischung) in keinem anderen kolonialisierten Land Afrikas und Asiens so gut wie in Lateinamerika. Ganz zu schweigen von Nordamerika, wo nur jene wenigen indigenen Stämme existieren, die für „würdig“ befunden wurden, in den Reservaten zu überleben.

 

 

Carlos Casanova ist Professor für Philosophie an der Pontificia Universidad Santiago de Chile.