Seit mehr als 30 Jahren sind die Geburtenraten in Europa katastrophal niedrig. 2,1 Kinder wären zum Erhalt eines demographischen Gleichgewichts notwendig. In Deutschland beispielsweise werden 1,36 Kinder pro Frau geboren, in den meisten europäischen Ländern ist dies ähnlich. Die Folge: Europa vergreist! Im Jahre 2050 sind 2 von 3 Europäern über 60 Jahre alt. Gesellschaftlich heißt das: mehr Pensionisten, weniger Erwerbstätige. Unsere Sozialsysteme sind oft so konzipiert, dass sie Kinderlosigkeit belohnen, Familienbildung und Kinderreichtum aber bestrafen. Nichts bräuchte das alternde Europa dringender als einen Babyboom, doch gleichzeitig sind Kinder das größte Armutsrisiko für junge Paare. Dieses Paradox beweist, dass die politischen Prioritäten falsch gesetzt werden.
Eine kinderferne bis kinderfeindliche Mentalität hat sich breit gemacht. Die Massenabtreibungen haben Europa in eine demographische Katastrophe geführt. Millionen Kinder wurden in Europa abgetrieben, weil sich die Familien, die Staaten, die Gesellschaften angeblich mehr Kinder nicht leisten konnten, weil andere Prioritäten gesetzt wurden: Heute fehlen uns die Kinder, die seit mehr als 30 Jahren abgetrieben werden. Alleine in Deutschland sind es in diesem Zeitraum geschätzte 8 Mio.! Diese Kinderlosigkeit vererbt sich, weil die nicht geborenen Kinder keine Kinder bekommen. Es ist nicht „fünf vor 12“ sondern „30 Jahre nach 12“.
Wagen wir eine Trendumkehr: Wir brauchen eine gesellschaftliche, rechtliche und finanzielle Neubewertung der Kinder und der Familien, eine neue Wertschätzung des Lebens und der Mütterlichkeit. Denn viele Frauen fühlen sich als Mütter von der Gesellschaft zurückgesetzt. Die Mutterrolle ist heute vielfach ins Hintertreffen geraten.
Eine Gesellschaft, die nicht an Kinderlosigkeit zugrunde gehen will, muss die Familien- und Erziehungsarbeit nicht nur anerkennen, sondern auch finanziell berücksichtigen! Dabei geht es nicht um Almosen, nicht um eine Form der Sozialpolitik, sondern um Leistungsgerechtigkeit und politische Vernunft. Der Demograph Prof. Herwig Birg schreibt dazu „Die Beseitigung der ökonomischen Ausbeutung der Familien ist eine notwendige Bedingung dafür, dass der Wunsch nach Kindern wieder zu einem selbstverständlichen Leitbild der Persönlichkeitsentwicklung wird.“ („Die ausgefallene Generation“, S. 147).
Trotz aller staatlichen Almosen tragen die Eltern im Durchschnitt fünf Sechstel aller Kosten, die Kinder verursachen. Von dieser Investition leben später hundert Prozent der Pensionisten: Die Kinderlosen genauso, wie die, die diese Investitionen geleistet haben. Man kann sich auf den Standpunkt stellen, Kinder seien ein reines Privatvergnügen, ein Luxus, den sich manche Paare gönnen. Aber wenn Kinderkriegen reines Privatvergnügen ist, wenn Elternschaft nichts mit der Gesellschaft zu tun hat, dann muss um der Gerechtigkeit willen auch die Alterssicherung privatisiert werden. Es kann nicht gerecht sein, die Kosten einer Angelegenheit (in diesem Fall des Privatvergnügens „Kinder“) zu privatisieren, dann aber den Nutzen derselben zu sozialisieren.
Wir müssen wieder lernen, Verantwortung zu übernehmen: für das eigene Leben, für Kinder und für die Zukunft der Gesellschaft. Wenn Europa nicht im Selbstverwirklichungs-Egoismus untergehen will, braucht es auch eine neue Wertschätzung für Mütter und Väter – für die Menschen, die persönlich Verantwortung für die Zukunft, also für Kinder, übernehmen.
Stephan Baier ist Korrespondent der katholischen Tageszeitung ‚Die Tagespost’ und Autor mehrerer Sachbücher. Er stammt aus Bayern und lebt mit seiner Frau Bernadette und seinen fünf Kindern in Österreich.
Lesetipps:
- Stephan Baier: „kinderlos. Europa in der demographischen Falle“, MM-Verlag, Aachen 2006.
- Rainer Beckmann/ Mechthild Löhr/ Stephan Baier (Hrg.): „Kinder: Wunsch und Wirklichkeit. Kinder und Familien in einer alternden Gesellschaft“, Sinus Verlag 2006.
- Herwig Birg: „Die ausgefallene Generation. Was die Demographie über unsere Zukunft sagt“, C.H.Beck Verlag 2005.
- Frank Schirrmacher, „Minimum. Vom Vergehen und Neuentstehen unser Gemeinschaft“, Blessing 2006.