„Die Christen wohnen in ihrer eigenen Heimat und doch als Fremdlinge; sie nehmen als Bürger an allem Anteil und ertragen doch alles wie Fremde; sie sind überall, auch in der Fremde zu Hause, und doch ist jede Heimat fremd für sie“.
“Brief an Diognet”, 2. Jahrhundert
Ein glaubenstreues Christentum bietet zuallererst etwas für die Demokratie, was wir so nennen könnten: es „schafft Platz“ für sie. In Matthäus 22 sagt unser Herr: „So gebt dem Kaiser, was dem Kaiser gehört, und Gott, was Gott gehört“.
Nun ist das ein wahrlich revolutionärer Text, dessen Folgen für das öffentliche Leben sich in den letzten 2000 Jahren ausgewirkt haben. Zwei grundlegende Dinge können über diese Stelle gesagt werden. Erstens gibt Jesus dem Kaiser, was ihm gebührt. Seine Autorität wird nicht geleugnet. So hat auch die Frühkirche nie die Autorität Cäsars geleugnet, nicht einmal unter dem Prokurator Pontius Pilatus, der den Herrn kreuzigen ließ. Aber der zweite wichtige Punkt in Matthäus 22 ist die Tatsache, dass Jesus Kaiser und Gott gegenüberstellt und ihn somit ent-göttlicht und den Vorrang der Treue zu Gott klarstellt. Es gibt Dinge, die Gott gebühren und eben nicht dem Kaiser. Weil Gott Gott ist, ist Cäsar nicht Gott. Und wenn Cäsar den Platz zu beanspruchen versucht, der rechtens Gott allein gehört, dann ist dem Kaiser Widerstand zu leisten.
Weil Cäsar nicht Gott ist, ist der politische Bereich weder ultimativ noch total. Durch das „Ent-göttlichen“ Cäsars entsakralisiert das Christentum auch die Politik. Und genau das ist von höchster öffentlicher Relevanz. Warum? Weil es sozialen Freiraum schafft, in dem die Politik des Überzeugens entstehen kann: jener soziale Freiraum, der es dem Rechtsstaat und seiner ersten Aufgabe, nämlich der Sicherstellung der Grundrechte seiner Bürger, ermöglicht, sich zu entwickeln. Weil Cäsar nicht Gott ist, ist Zivilgesellschaft möglich. Weil Cäsar nicht Gott ist, steht der Staat im Dienst der Gesellschaft und nicht umgekehrt.
Der zweite Bereich an Einfluss, den das Christentum auf die Demokratie hat, liegt in unserer und von uns angestrebten Art und Weise, Bürger eines demokratischen Staates zu sein.
Es gibt keine Demokratie ohne eine genügende Zahl an Demokraten: eine ausreichende Anzahl von kritischen Männern und Frauen, die jene Haltungen, die für die Durchführung des Experiments der demokratischen Selbstregierung notwendig sind, nämlich Grundhaltungen des Herzens und des Verstandes – die Tugenden – verinnerlicht haben.
Demokratie ist nicht eine Maschine, die von selbst läuft. Sie kann – für eine gewisse Zeitspanne –die Unzulänglichkeiten der Bürger kompensieren. Aber langfristig braucht diese Maschinerie Mechaniker – und zwar solche aus einem bestimmten Guss aus Geist und Seele – damit die Maschine zum Wohl der Menschen arbeitet. Jedes zweijährige Kind ist ein natürlicher Tyrann: ein süßes Bündel voll Willensstärke und Selbstzentriertheit, das durch unsere Gesellschaft in einen demokratischen Mitbürger, ein Mitglied der Zivilgesellschaft, geformt werden muss.
Ich glaube nicht, dass ein authentisches Christentum die einzig mögliche Form religiöser und moralischer Normen ist die Tyrannen in Demokraten verwandeln kann. Aber ich glaube, dass der christliche Personalismus und eine christliche Sicht der menschlichen Gegebenheiten einen starken und positiven Einfluss auf die für das demokratische Experiment wichtigen Haltungen dem „Anderen“ gegenüber haben.
C.S.Lewis veranschaulicht diese Haltung in ‚The Weight of Glory’:
„Es gibt keine gewöhnlichen Leute. Du hast noch nie mit einem gewöhnlichen Sterblichen gesprochen. Nationen, Kulturen, Künste, Zivilisationen – sie alle sind sterblich, und ihr Leben ist verglichen mit dem unsrigen wie das einer Stechmücke. Aber es sind Unsterbliche, mit denen wir lachen und arbeiten, die wir heiraten, brüskieren und ausbeuten. Unsterbliche: unsterblicher Horror oder bleibender Glanz. …Und unsere Nächstenliebe muss echte und teure Liebe sein, mit tiefem Gespür für die Sünde trotz derer wir den Sünder lieben. Nicht schlichte Toleranz oder Nachsicht die die Liebe parodiert wie Leichtsinn Fröhlichkeit parodiert…“
Ich glaube, dass echtes Christentum Ehrfurcht vor dem Nächsten, dem ‚Anderen’ als einzigartigem Subjekt, erzeugt. Und diese Ehrfurcht beinhaltet religiöse Toleranz. Tatsächlich ist religiöse Toleranz eine Errungenschaft der Religion und religiös gewährleistet.
George Weigel ist ein Senior-Mitglied des Zentrums für Ethik- und Öffentlichkeitspolitik und Direktor des katholischen Studienprogramms. Er ist ein bekannter Autor und Kommentator zu Themen der Religion und des öffentlichen Lebens.