Wenn die halbe Bevölkerung Europas unter Verfassungen lebt, die einen expliziten Verweis auf Gott und das Christentum enthalten, so ist der Ausschluss desselben eine Verhöhnung des europäischen Leitspruchs „Vereint in Vielfalt“: „Ja, aber nur so lange diese Vielfalt nicht Gott oder das Christentum beinhaltet.“ Wie oft noch müssen wir die Leier widerlegen, dass der Ausschluss des Gottesbezugs im staatlichen Symbolismus eine neutrale Entscheidung sei. Es ist vielmehr eine politische Entscheidung für eine und gegen eine andere Weltanschauung.
Ich habe Valerie Giscard (1): gefragt: wo standen Sie in der Frage der Invocatio Die (2), bzw. der christlichen Wurzeln. Und er sagte, er wäre für eine Bezugnahme. Aber es gab keinen Konsens und sie arbeiteten nun mal mittels Konsens.
Ja, es gab keinen Konsens. Aber warum wird dann die Nicht-Erwähnung angenommen? Und ich fragte Herrn Giscard: Warum haben Sie nicht die Invocatio Dei hineingeschrieben, weil Sie daran glauben, und dann gesagt: Ich kann sie nicht herausnehmen, es gibt darüber keinen Konsens? Warum siegte die französische Laicité über den deutschen Glauben an die Verantwortung vor Gott und den Menschen, über die irische Überzeugung, dass alle Autorität von der Heiligsten Dreifaltigkeit kommt oder über die elegante polnische Lösung, die beides anerkennt.
Es gibt noch einen Grund, warum der Gottesbezug aus der Verfassung herausgefallen ist: Die europäische Laicité ist - im Gegensatz zum amerikanischen Säkularismus - nicht einfach ein „Ich glaube halt nicht an Gott“, sondern sie ist fast schon ein Glaube an sich: Eine positive Feindschaft allem Religiösem gegenüber und damit ist in Europa nun einmal das Christentum gemeint. Darum habe ich keine Hemmungen dies in meinem Buch als Christophobie zu bezeichnen. (3)
Noch ein Problem, das viel tiefer geht und den inneren Kampf Europas rund um dieses Thema betrifft, ist die Frage, ob ein christlicher Gottesbezug nicht das europäische Selbstverständnis als tolerante, multikulturelle Gesellschaft kompromittiere. Was ist denn mit den muslimischen Mitbürgern? Den jüdischen? Würden sie sich nicht ausgeschlossen, gar bedroht fühlen?
Aber hinter all dem steht eine Verwirrung, was Toleranz, Multikulturalismus und Identität betrifft. Toleranz ist nicht einfach eine soziale Praxis. Es ist eine Fähigkeit der Seele, das was ihr widerspricht, was jemand ablehnt, doch zu überwinden, zu akzeptieren oder zu tolerieren.
Ist es Toleranz, zu sagen, dass ich nicht urteilen kann und deshalb alles erlaubt werden muss? Wahre Toleranz – also jene Fähigkeit der Seele, anderen nichts aufzuzwingen – kann nur in der allgemeinen Anerkennung von bestimmten Wahrheiten liegen. Denn in der „Alles ist erlaubt“ - Haltung herrscht nicht Respekt sondern Verachtung dem anderen gegenüber vor! Wie kann ich die Identität des anderen respektieren wenn ich meine eigene Identität nicht respektiere? Und warum sollten sich Muslime oder Juden als religiöse Minderheiten in einer Gesellschaft sicher fühlen, die sogar ihre eigene religiöse Identität vom Selbstverständnis ausschließt? Viele Menschen kommen in diese Länder zum Teil gerade deshalb, weil es eine Tradition der Toleranz gibt, in der diese Menschen selbst dann willkommen sind, wenn sie nicht dieselben religiösen Überzeugungen teilen. Ich kann den anderen nicht respektieren, wenn ich mich selbst nicht respektiere. Wir sollten also wirklich die Reichtümer des Christentums feiern!
Es herrscht eine Art europäische Manie oder Amnesie, was die christliche Vergangenheit Europas betrifft. Nehmen wir als Beispiel den Fall Buttiglione (4). Als er zur Homosexualität befragt wurde, sagte er folgendes: „Wenn Sie mich nach meinen persönlichen Überzeugungen fragen, dann halte ich diese Beziehungen für sündhaft. Aber wenn Sie mich fragen, wie ich mich als Kommissar für Inneres und Justiz verhalten werde, so halte ich mich an die Gesetze und die Verfassung Europas.“ Er sagte nicht einmal „falsch“ sondern „sündhaft“, was eine religiöse Kategorie ist. Für jemanden der nicht religiös ist, hat das Wort „Sünde“ keine Bedeutung.
Stellen wir uns mal vor, Rocco Buttiglione wäre Jude gewesen: erstens hätte niemand ihm diese Frage gestellt. Zweitens: wäre sie ihm gestellt worden und hätte er genau dieselbe Antwort gegeben, wäre diese als eine beispielhafte Antwort gesehen worden: Er hält an seiner Tradition fest (was wir als multikulturelle Gemeinschaft akzeptieren), und er ist der Verfassung gegenüber loyal. Als Christ kann man jedoch damit vor die Tür gesetzt werden. Es ist ein Fall mit viel Aussagekraft.
Joseph H.H. Weiler, geb. 1951 in Johannesburg, Professor für Internationales Recht und Europarecht an der New York University Law School und am Europakolleg in Brugge. Seine bekanntesten Veröffentlichungen: „The Constitution of Europe: Do the New Clothes have an Emperor?“ (1999) und „Ein christliches Europa“ (2004) wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt und international diskutiert. Im deutschen Sprachraum ist er auch durch seinen Roman „Der Fall Steinmann“ (Piper, 2000) bekannt. Joseph Weiler ist Jude.
(1) Valerie Giscard d’Estaing war der Präsident des Europäischen Konvents, der die Verfassung für die Europäische Union entwarf
(2) Lateinisch für “Gott anrufen”. Während der Debatte um den Entwurf für eine europäische Verfassung stimmten einige für einen direkten Gottesbezug, andere für eine Erwähnung der christlichen Wurzeln der europäischen Geschichte. Beide Vorschläge wurden abgelehnt: mit dem falschen Argument, dass sie für Nicht- und Andersgläubige anstößig seien.
(3) Christophobie oder Christianophobia: Irrationaler Hass Christen, dem Christentum oder christlichen Überzeugungen gegenüber. Führt zu verbaler Gewalt, hass-motivierten Taten oder Diskriminierung von Christen bzw. subtiler Verfolgung und „gesellschaftlichem Tod” (Johannes Paul II, Lourdes, 1983).
(4) Rocco Buttiglione wäre von der italienischen Regierung als hochqualifizierter Kommissar der Europäischen Kommission von 2004 bis 2009 gestellt worden. Nach stundenlanger Befragung durch das Europäische Parlament musste er wegen seiner christlichen Überzeugungen zurücktreten.