Die Christliche Gesellschaftslehre ist eine theologische Disziplin, die sich mit den Konsequenzen des Evangeliums für die sozialen, ökonomischen und politischen Strukturen befasst.
Sie fragt immer neu nach den Bedingungen einer menschenwürdigen Ordnung in Wirtschaft und Gesellschaft, Staat und internationalen Beziehungen. Der Tatsache Rechnung tragend, dass für das Gelingen des menschlichen Lebens nicht nur das Verhalten des Einzelnen und seine Tugenden, sondern auch gesellschaftliche und politische Ordnungen von grundlegender Bedeutung sind, versteht sich die Christliche Gesellschaftslehre als Ordnungsethik. Sie geht von der Menschenwürde aus, die für die Christen in der Gottebenbildlichkeit des Menschen gründet, die aber auch in staatlichen Verfassungen als Ausgangspunkt und Ziel aller politischen und rechtlichen Ordnungen gilt. Auf dieser Basis entwickelt sie Leitlinien für das soziale und politische Handeln.
Die erste Leitlinie ist das Gemeinwohlprinzip. Das Gemeinwohl ist die Gesamtheit der sozialen und politischen Voraussetzungen für das Gelingen des menschlichen Lebens. Die Politik hat sich auf allen Ebenen – von der Kommunalpolitik bis zur globalen Politik der Vereinten Nationen – am Gemeinwohl zu orientieren, das heißt, die Entfaltungschancen des Menschen, und zwar des ganzen Menschen und aller Menschen, zu verbessern. Sie hat einerseits Armut zu bekämpfen und Unterdrückung zu beseitigen und andererseits Freiheit zu sichern und Gerechtigkeit zu gewährleisten. Diesem Ziel dienen zwei weitere Grundsätze der Christlichen Gesellschaftslehre, das Solidaritäts- und das Subsidiaritätsprinzip.
Das Solidaritätsprinzip unterstreicht die zentrale Bedeutung der Solidarität für eine menschenwürdige Politik. Solidarität ist ein Bewusstsein wechselseitigen Verbundenseins und Verpflichtetseins, das im personalen Menschenbild gründet. Ohne Solidarität ist das Zusammenleben der Menschen weder in der Familie noch in der Gesellschaft, weder im Unternehmen noch in der Wirtschaft, weder im Staat noch in den internationalen Beziehungen denkbar. Solidarität ist einerseits eine Tugend, andererseits ein Strukturprinzip staatlicher Ordnung. Sie ist die Fähigkeit und die Bereitschaft des Einzelnen, die Würde und die Rechte der Mitmenschen anzuerkennen und diese Anerkennung in der eigenen Lebensführung und im Handeln zum Ausdruck zu bringen. Als Strukturprinzip prägt sie nicht nur das Sozial- und das Arbeitsrecht, sondern die gesamte Rechtsordnung, die Solidarität unabhängig von täglichen Willensentscheidungen des Bürgers gewährleisten will.
Solidarität ist nicht möglich ohne Subsidiarität. Das Subsidiaritätsprinzip ist ein Grundsatz der Christlichen Gesellschaftslehre zur Ordnung des Verhältnisses von Staat und Gesellschaft. Der Staat soll gegenüber der Gesellschaft – einzelnen Bürgern, Familien, Gruppen und Unternehmen – nicht mehr aber auch nicht weniger tun, als Hilfe zur Selbsthilfe anzubieten. Der Begriff Subsidiarität stammt vom lateinischen „subsidium ferre“ und meint, Beistand leisten, eine Hilfestellung oder ein Schutzdach anbieten. Das Subsidiaritätsprinzip geht davon aus, dass alles, was der einzelne Bürger und seine von ihm selbst gebildeten Vereinigungen von der Familie bis zum Unternehmen leisten können, ihnen nicht vom Staat entzogen werden darf. Das Subsidiaritätsprinzip ist somit der zentrale Grundsatz einer freiheitlichen und menschenwürdigen Staatsordnung. Er hat eine den Staat aktivierende und zugleich eine ihn begrenzende Dimension. Er verpflichtet ihn zur Hilfe für die ihm untergeordneten, kleineren Gemeinschaften mit dem Ziel, diese in die Lage zu versetzen, dem einzelnen Bürger zur Entfaltung eines menschenwürdigen Lebens, mithin zu einer personalen Existenz zu verhelfen. Zugleich verbietet es ihm die Intervention in den Lebens- und Aufgabenbereich dieser Gemeinschaften, wenn diese in der Lage sind, ihn selbständig zu regeln bzw. zu erfüllen. Das Subsidiaritätsprinzip beruht auf der anthropologischen Erkenntnis, dass das Gelingen des menschlichen Lebens in erster Linie von der Bereitschaft und der Fähigkeit der Person abhängt, Initiativen zu ergreifen, Risiken einzugehen, Anstrengungen auf sich zu nehmen und Leistungen zu erbringen.
Um die skizzierten Grundsätze für die Ordnung der Wirtschaft und der Gesellschaft, des Staates und der internationalen Beziehungen fruchtbar zu machen, ist die Christliche Gesellschaftslehre auf die Zusammenarbeit mit allen sozialwissenschaftlichen Disziplinen, insbesondere der Wirtschaftswissenschaft, der Soziologie, der Rechtswissenschaft und der Politikwissenschaft angewiesen. Mit ihrer Hilfe hat sie immer neu die Zeichen der Zeit zu analysieren und Normen und Maximen anzubieten. In den päpstlichen Sozialenzykliken von „Rerum Novarum“ (1891) bis „Centesimus Annus“ (1991) spiegelt sich diese Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Entwicklungen im Lichte der Grundsätze der Christlichen Gesellschaftslehre. Dass die Grundsätze dieser Lehre nicht nur Theorie geblieben sind, sondern im 19. und 20. Jahrhundert auch große praktische Bedeutung hatten, spiegelt sich z.B. in der Entwicklung des sozialstaatlichen Leistungssystems in den Ländern des deutschen Sprachraums, im Zusammenbruch des Kommunismus und den post-kommunistischen Transformationsprozessen, in der verstärkten Aufmerksamkeit für die Probleme der Dritten Welt und nicht zuletzt im europäischen Integrationsprozess wieder.
Manfred Spieker ist Professor für Christliche Gesellschaftslehre an der Universität Osnabrück und Präsident der Internationalen Gesellschaft für Christliche Gesellschaftslehre.
Lesetipps:
· „Centesimus Annus“ (1991), www.vatican.va/edocs/DEU0071/_INDEX.HTM
· Kompendium der Soziallehre der katholischen Kirche (2004)